Die Grundlagen des Buchs der Wandlung
Eine Einführung zur Erstausgabe des Buchs von Wolfgang Bauer (1924)
„Wer weiß, redet nicht; wer redet, weiß nicht“ heißt es lapidar in der alten Textsammlung, die dem taoistischen Philosophen Chuang-tzu zugeschrieben wird. Etwas von der Wahrheit dieses Satzes, der sich auf alle „letzten Dinge“ bezieht, gilt auch für das Urteil über Schriften, die zur Grundlage großer Kulturen geworden sind. Weil sie etwas Axiomatisches haben, ist jedes Wort über sie zugleich ein Zuviel und ein Zuwenig.
Das I-Ging, das „Buch der Wandlungen“, gehört wie kaum ein anderes Buch der chinesischen Literatur zu diesen Schriften. Es ist sicher kein Zufall, dass die Erfindung der Trigramme, der acht verschiedenen Dreiergruppen aus gebrochenen und ungebrochenen Strichen, die den Kern des Buches bilden, dem legendären Kaiser Fu-hsi zugeschrieben wird.
Alle in China entstandenen Weltanschauungen und Wissenschaftssysteme versuchten, ihre Lehren mit dem I-Ging in Einklang zu bringen, und nicht anders erging es manchen fremden Weltanschauungen, die von außen nach China eindrangen. Erst unter dem indirekten Einfluss der westlichen Zivilisation begann man allmählich, auch über die Entstehung des I-Ging selbst intensiver nachzudenken.
Einige der Theorien, die dabei auftauchten, waren interessant, weil sie bereits die Komplexität des Textes erkennen ließen. In der Regel wurde jedoch – sicherlich zu Recht – daran festgehalten, dass das I-Ging von Anfang an ein Orakelbuch war. Bereits in der ersten historisch fassbaren Dynastie, der Shang-Dynastie, spielte das Orakelwesen eine entscheidende Rolle.
Was das I-Ging so besonders macht, ist sein nicht statischer Charakter. Auch als Orakelbuch erhebt es nicht den Anspruch, die Zukunft als unabänderliches Fatum vorauszusagen, sondern nur die Gegenwart aufzuzeigen, die freilich ihre „Neigung“ in die Zukunft einschließt.
Aber gerade diese ist offen für jede menschliche Gestaltung durch die Anwendung der Ratschläge, die der Text immer wieder gibt. Es ist also nicht eine einzige Situation, sondern die Spannung zwischen zwei Situationen, von denen die zweite aus der „Verwandlung“ der ersten hervorgeht, über die das I-Ging Auskunft geben will; immer steht die Veränderung im Mittelpunkt der Aussage.
Mao schreibt über diese Verwandlung: „Die Bewegung jedes Dinges drückt sich in zwei Zuständen aus: im Zustand relativer Ruhe und im Zustand offensichtlicher Veränderung. Die Dinge gehen ununterbrochen vom ersten in den zweiten Zustand über, wobei der Kampf der Gegensätze, der in beiden Zuständen stattfindet, durch den zweiten Zustand zur Lösung des Widerspruchs führt. Die Verbindung der bedingten, relativen Identität mit dem unbedingten, absoluten Kampf ergibt die Bewegung der Widersprüche in allen Dingen“.
Der Anspruch des I-Ging ging weit über den eines Wörterbuchs hinaus, da es die Totalität der Welt nicht nur starr abzubilden, sondern sie noch in ihrer atmenden Bewegung zu erfassen suchte. So konnte der berühmte englische Naturforscher und Sinologe Joseph Needham, wie in ähnlicher Weise unzählige Chinesen vor ihm, die „Bilder“ in ein Koordinatensystem aus Zeit- und Raumachse einordnen, in dem sie nicht nur einen Stellenwert, sondern auch einen Wirkungswert besitzen, je nach ihrer Beziehung zueinander und ihrer Tendenz zur Entfaltung oder Rückbildung.
Die Betrachtung der Beziehungen der Hexagramme zueinander unter Betonung der Kombinatorik ihrer Strichzusammensetzungen und Zurückstellung des Inhalts der Bilder führte nun allerdings wiederum zu Theorien, nach denen das I-Ging in seinem Kern einen Komplex von magischen Quadraten und mathematischen Aussagen enthalten sollte. Auch diese Theorie, so arg gekünstelt sie in ihrer vollen Anwendung wirkt, enthält etwas Wahres.
Tatsächlich haben die Chinesen schon sehr früh die Entstehung des I-Ging mit magischen Tafeln symbolischer Zeichen, der „Tafel des Gelben Flusses“ und der „Tafel des Flusses LoK“, in Verbindung gebracht, und in der Tat liegt die Überzeugungskraft des Buches gerade in der kombinatorischen Geschlossenheit der Hexagramme, die den Gedanken, dass sich in ihnen eine Art Weltformel verberge, fast zwingend nahelegt.
Orakelbuch, Enzyklopädie, Formelsammlung – wie auch immer die neuere Forschung das „Buch der Wandlungen“ gesehen hat, sie ist dabei jeweils auf eine der verschiedenen Wurzeln des Textes gestoßen, die jede für sich nicht nur seine Entstehung, sondern auch seine spätere Deutung immer wieder beeinflusst haben.
Selbst bei vorsichtiger Datierung kann daher für die Entstehung der Kernstücke des Buches – der 64 Hexagramme mit den ihnen zugeordneten „Bildern“ – die „Frühchou-Zeit“, das erste Drittel des ersten Jahrtausends v. Chr., angenommen werden. Die sehr unterschiedlichen Einzelstücke, die sich in den „Urteilen“ darum herum herauskristallisiert haben, sind zum Teil sicher noch älter, ja in gewisser Weise zeitlos.
Daraus ergab sich immer wieder die Wechselwirkung zwischen der Ebene der Natur und der Ebene des Menschen, die dem Buch auch in der Politik seinen Einfluss sicherte. Das Verschwimmen der Grenzen zwischen Mensch und Natur, zwischen Subjekt und Objekt, das für das „unwissenschaftliche“ Denken aller untergegangenen Kulturen typisch ist, bildet freilich auch die Voraussetzung für jedes Orakel.
Interpretation des „Buchs der Wandlungen“ in Chinas Geschichte
Die Hauptkommentare des I-Ging, die „Zehn Flügel“, stammen zum überwiegenden Teil erst aus der Han-Dynastie (206 v. bis z20 n. Chr.), in der eine Welle kosmologischer Spekulationen über das Land hinwegging. Von allen chinesischen Büchern geriet das I-Ging am meisten in den Bann dieses neuen Interesses. Bis dahin war es, wenn man von einer einzigen Stelle in den „Gesprächen“ des Konfuzius absieht, wo ihm ein intensives Studium des I-Ging nachgesagt wird – ausschließlich als Wahrsagetext benützt worden.
In der Ch’in-Dynastie, deren despotischer Gründer an allen okkulten Künsten großes Interesse hatte, soll es eben deshalb als eine der wenigen Schriften einer umfassenden Bücherverbrennung entgangen sein. In der Han-Zeit jedoch ereignete sich so etwas wie eine Entdeckung der Natur als einer selbständigen, wenn gleich berechenbaren Kraft, durch die auch das I-Ging in ein neues Licht rückte.
Schon einige Jahrhunderte früher hatte man begonnen, aus der dualistischen Lehre von zwei Grundkräften, dem dunklen, weiblichen, dionysischen Yin und dem hellen, männlichen, apolitischen Yang, und den Spekulationen über das Wirken der Fünf Elemente ein immer verwickelter werdendes Erziehungssystem aufzubauen, das sich aber erst unter den Han als eine Art Totalwissenschaft etablierte.
Da darin die Idee von der Einheit von Natur- und Menschenwelt nicht abgestreift, sondern im Gegenteil aufs höchste systematisiert wurde, fand diese Wissenschaft unmittelbare Anwendung auch auf Politik und Geschichte: So konnten beispielsweise selbst Kaiser durch die Ausdeutung echter oder vorgegebener Naturerscheinungen gegängelt und ganze Dynastien als „unter“ diesem oder jenem Element regierend in der Vergangenheit kritisiert oder für die Zukunft vorhergesagt werden.
Das I-Ging hatte mit diesen Spekulationen primär zwar nichts zu tun, es wurde aber wegen seines dualistischen Grundcharakters sofort mit den Yin-Yang Theorien verknüpft und, wie bereits die „Zehn Flügel zeigen, in zunehmendem Maße bloß noch als eine Autorität verwertet, an der sich das Funktionieren des Entsprechungssystems der Yin-Yang Kräfte und der Fünf Elemente vortrefflich demonstrieren ließ.
Ein Dickicht von Kommentaren, „zehntausende von Wörtern für einen einzigen Satz“, wie ein Zeitgenosse klagt, überwucherte den Grundtext, lähmte seine Anwendung und verstellte sein Verständnis. So hatte das „Buch der Wandlungen“ um das zweite nach chr. Jh. zur Entwicklung einer krausen Naturwissenschaft beigetragen, in der unter dem Zeichen des Konfuzianismus nicht nur der von Konfuzius als Maß aller Dinge entdeckte Mensch zurücktrat, sondern sogar das Buch selbst hinter den ihm gewidmeten Auslegungen zu verschwinden begann.
Einem genialen Philosophen Wang Pi kommt das Verdienst zu, sich durch diesen Wust hindurch wieder zu dem eigentlichen Wesen des I-Ging vorgestoßen zu sein. Er entdeckte, dass die einheitliche „dynamische Ordnung“, die für ihn das Weltprinzip darstellte, ebenso wie ihre Auffaltung in „Ideen“, sich zwar in den Symbolen der Hexagramme und ihren Benennungen und Beschreibungen niedergeschlagen habe, dass all das aber nicht mit den „Ideen“ selbst verwechselt werden dürfte.
In seinem berühmten I-Ging Kommentar schrieb Wang Pi: „Die Symbole der Hexagramme dienen zum Ausdruck der dahinterstehenden Ideen, die den Hexagrammen beigegebenen Sprüche zum Ausdruck der Symbole. Sobald man aber die Symbole erfasst hat, können die Worte vergessen werden, und sobald man die Ideen erfasst hat, können die Symbole vergessen werden. Wer sich hingegen an die Worte klammert, wird nie die Symbole erfassen, und wer sich an die Symbole klammert, wird nie die Ideen erfassen.“
Anders als viele Gelehrte in den Jahrhunderten vor ihm, die den Hexagrammen und den sie bezeichnenden Worten eine unmittelbare Wirklichkeit zugestanden hatten, sah er in ihnen Begriffskonfigurationen, die lediglich auf eine übergeordnete Ordnung hinweisen, nicht aber mit ihr identisch sein sollten.
Diese Auffassung Wang Pis, die im Einklang mit einer sich in seiner Zeit wieder stärker durchsetzenden rationalen Bewegung im Konfuzianismus stand, blieb im Wesentlichen bis ins ro. Jh. maßgebend. Während dieser Periode traten allerdings alle autochthon chinesischen Denksysteme in den Hintergrund gegenüber dem Buddhismus, der etwa seit dem 3. Jahrhundert Fuß gefasst hatte und für die folgenden sechs bis sieben Jahrhunderte, die auch die glanzvolle T’ang-Zeit miteinschlossen, das geistige Leben Chinas bestimmte.
Unter seinem Einfluss wurde der Wert des I-Ging zwar nicht außer Kurs gesetzt, aber auf dem Hintergrund der ungleich weiter angelegten und detaillierter ausgearbeiteten buddhistischen Kosmologie eher als eine Einzeldeutung innerhalb eines umfassenderen Systems aufgefasst. Mit der Rückbesinnung der chinesischen Kultur auf ihre eigenen Werte, die in Gestalt des „Neokonfuzianismus“ mit der Sung-Dynastie einsetzte und trotz langer, nur von der Ming-Dynastie unterbrochener Zeiten -der Fremdherrschaft bis zur Auseinandersetzung mit Europa wirksam blieb, rückte jedoch auch das I-Ging wieder ins Zentrum des Interesses.
In gewisser Weise griff man dabei wieder auf die Interpretationsmethoden zurück, die vor Wang Pi üblich gewesen waren. Die Kosmologien, die führende frühe Neokonfuzianer wie Chou Tun-i und Shao Yung entwickelten, leiteten sich zum großen Teil unmittelbar aus dem I-Ging her und arbeiteten wieder auffallend stark mit Diagrammen.
Während jedoch in der Han-Zeit der Mensch sich in vergleichbaren Spekulationen in ein Räderwerk von Naturkräften eingespannt sah, wurden die Neokonfuzianer in der Gegenbewegung zum Buddhismus dem Menschen nun in der Weise gerecht, dass es umgekehrt den Kosmos nach nahezu menschlichen Maßstäben funktionieren ließen.
Ein Beispiel dafür ist etwa, dass Shao Yung bei seiner Neuberechnung der vom Buddhismus eingeführten „Weltzeitalter“ als Leiteinheit die dreißigjährige Generationsspanne des Menschenlebens zugrunde legen. Mit dieser Umkehrung der Zielrichtung ging die Ausdehnung menschlicher Moralvorstellungen auf den Bereich der natürlichen Welt Hand in Hand, so dass die für das I-Ging charakteristische Verknüpfung von Natur und Mensch plötzlich auch den Bewegungen der Natur menschlichen „Sinn“ und ethischen Bezug verlieh.
Seither waren, mehr noch als zuvor, emanzipatorische Bewegungen, die sich gegen den nun von den Mandschus vertretenen Konservatismus wendeten, mit dem „Buch der Wandlungen“ aufs engste verbunden. Es lag nicht zum geringsten Teil an dieser neuen Popularität, dass das Buch um eben diese Zeit erstmalig auch in Europa bekannt wurde. In seiner Korrespondenz mit dem in China wirkenden Jesuitenpater Bouvet erfuhr Leibniz von den verschiedenen Tafeln Shao Yungs, in denen die 64 Hexagramme nach einem kombinatorischen System präzise angeordnet waren.
Es ist zwar nicht anzunehmen, dass sie ihn zur Konzipierung seines berühmten Binarsystems angeregt haben, die Begeisterung aber, die er bei der Begegnung mit einer Denkform empfunden haben muss, die (wie er selbst) die prästabilierte Harmonie des Seins in einem mathematisch ganz ähnlich gebauten System einzufangen suchte, hat gewiss zu seiner ungewöhnlichen Wertschätzung Chinas beigetragen.
Von chinesischer Seite war man dagegen seit Ende des vergangenen Jhs. eher bemüht, umgekehrt mit Hilfe des „Buchs der Wandlungen“ den Nachweis zu führen, dass das viel bewunderte westliche Denken in China immer schon existent gewesen sei.
Ein Beispiel dafür findet sich in der 1917 unter der Anleitung John Deweys geschriebenen Dissertation des später weithin berühmten, bereits erwähnten chinesischen Gelehrten Hu Shih über die Entwicklung der Logik im alten China einer der Wissenschaften, die zum Kummer der damals neu heranwachsenden chinesischen Intelligenz in China immer nur ein Schattendasein gefristet hatten.
Quelle: (EINLEITUNG ZUR ERSTAUSGABE 1924) überarbeitete Version