Vorwort von Richard Wilhelm

Was wir von dem Verfas­ser der vorlie­gen­den Apho­ris­men­samm­lung histo­risch Beglau­big­tes wissen, geht sehr eng zusam­men. Es ist so wenig, daß die Kritik viel­fach gar nichts mehr davon bemerkte und ihm samt seinem Werk im Gebiet der Mythen­bil­dung den Platz anwies. Der Name Laotse, unter dem er in Europa bekannt ist, ist gar kein Eigen­name, sondern ein Appel­la­ti­vum und wird am besten über­setzt mit »der Alte«.

Laotse stammt wohl aus der heuti­gen Provinz Honan, der südlichs­ten der soge­nann­ten Nord­pro­vin­zen, und mag wohl ein halbes Jahr­hun­dert älter gewe­sen sein als Kung (Konfu­zius), so daß seine Geburt auf das Ende des 7. vorchrist­li­chen Jahr­hun­derts fällt. Im Lauf der Zeit hatte er am kaiser­li­chen Hof, der damals in Loyang (in der heuti­gen Provinz Honan) war, ein Amt als Archi­var beklei­det.

Als die öffent­li­chen Zustände sich so verschlim­mer­ten, daß keine Aussicht auf die Herstel­lung der Ordnung mehr vorhan­den war, soll Laotse sich zurück­ge­zo­gen haben. Als er an den Grenzpaß Han Gu gekom­men sei, nach späte­rer Tradi­tion auf einem schwar­zen Ochsen reitend, habe ihn der Grenz­be­amte Yin Hi gebe­ten, ihm etwas Schrift­li­ches zu hinter­las­sen. Darauf habe er den Tao te king, bestehend aus mehr als 5000 chine­si­schen Zeichen, nieder­ge­schrie­ben und ihm über­ge­ben. Dann sei er nach Westen gegan­gen, kein Mensch weiß wohin.

Daß auch an diese Erzäh­lung sich die Sage geknüpft hat, die Laotse nach Indien führte und dort mit dem Buddha in Berüh­rung kommen ließ, ist verständ­lich. Irgend­eine persön­li­che Berüh­rung zwischen Laotse und Buddha ist jedoch voll­kom­men ausge­schlos­sen. Man hat da spätere Umstände in das histo­ri­sche Bild zurück­ge­tra­gen.

In der Han-Dynas­tie wenden sich mehrere Kaiser dem Studium des Tao te king zu, so beson­ders Han Wen Di (197–157 v. Chr.), dessen fried­li­che und einfa­che Regie­rungs­art als direkte Frucht der Lehren des alten Weisen bezeich­net wird. Sein Sohn Han Ging Di (156–140 v. Chr.) legt endlich dem Buch die Bezeich­nung »Tao te king« (Dau De Ging, d.h. »das klas­si­sche Buch vom Sinn und Leben«) bei, die es seit­her in China behal­ten hat.

Die ganze Meta­phy­sik des Tao te king ist aufge­baut auf einer grund­le­gen­den Intui­tion, die der streng begriff­li­chen Fixie­rung unzu­gäng­lich ist und die Laotse, um einen Namen zu haben, »notdürf­tig« mit dem Worte TAO (sprich: Dau) bezeich­net. In Bezie­hung auf die rich­tige Über­set­zung dieses Wortes herrschte von Anfang an viel Meinungs­ver­schie­den­heit. »Gott«, »Weg«, »Vernunft«, »Wort« sind nur ein paar der vorge­schla­ge­nen Über­set­zun­gen, während ein Teil der Über­set­zer einfach das »Tao« unüber­tra­gen in die euro­päi­schen Spra­chen herüber­nimmt.

Im Grunde genom­men kommt auf den Ausdruck wenig an, da er ja auch für Laotse selbst nur sozu­sa­gen ein alge­bra­isches Zeichen für etwas Unaus­sprech­li­ches ist. Es sind im wesent­li­chen ästhe­ti­sche Gründe, die es wünschens­wert erschei­nen lassen, in einer deut­schen Über­set­zung ein deut­sches Wort zu haben. Es wurde von uns durch­gän­gig das Wort Sinn gewählt. Um hier gleich die Über­set­zung des immer wieder­keh­ren­den Wortes TE (sprich: De) zu recht­fer­ti­gen, so sei bemerkt, daß die chine­si­sche Defi­ni­tion dessel­ben lautet: »Was die Wesen erhal­ten, um zu entste­hen, heißt De.« Wir haben das Wort daher mit Leben über­setzt.

Kein einzi­ger histo­ri­scher Name ist in Laot­ses ganzem Büch­lein genannt. Er will gar nicht in der Zeit­lich­keit wirken. Darum verschwimmt er für das histo­risch gerich­tete China in nebel­hafte Fernen, da ihm niemand zu folgen vermag. Und eben das ist der Grund, warum er in Europa so große Wirkun­gen ausübt trotz des räum­li­chen und zeit­li­chen Abstands, der ihn von uns trennt.

Er hat für sich einen Blick getan in die großen Welt­zu­sam­men­hänge und hat, was er geschaut, mühsam in Worte gebracht, es gleich­ge­sinn­ten Geis­tern der späte­ren Zeit über­las­send, selb­stän­dig seinen Andeu­tun­gen nach­zu­ge­hen und im Welt­zu­sam­men­hang selbst die Wahr­hei­ten zu schauen, die er entdeckt.

Es hat zu allen Zeiten einzelne Denker gege­ben, die unter den vergäng­li­chen Erschei­nun­gen des mensch­li­chen Lebens den Blick erho­ben zu dem ewigen Sinn des Welt­ge­sche­hens, dessen Größe alles Denken über­steigt, und die darin Ruhe gefun­den haben und Leich­tig­keit, die es ihnen ermög­lichte, den soge­nann­ten Ernst des Lebens nicht mehr so gar ernst zu nehmen, weil ihm kein wesent­li­cher Wert an und für sich inne­wohnt.

Es ist ein Zeichen für die Höhe des Stand­punkts von Laotse, daß er sich auf Andeu­tun­gen des Unaus­sprech­li­chen beschränkt, deren Verfolg jedem einzel­nen über­las­sen blei­ben mag.” (Richard Wilhelm)

Quelle:  Spie­gel-Projekt Guten­berg (https://gutenberg.spiegel.de/buch/tao-te-king-1326/1)

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