81 Texte

1

Der Sinn, der sich ausspre­chen läßt,
ist nicht der ewige Sinn.
Der Name, der sich nennen läßt,
ist nicht der ewige Name.
“Nicht­sein” nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.
“Sein” nenne ich die Mutter der Einzel­we­sen.
Darum führt die Rich­tung auf das Nicht­sein
zum Schauen des wunder­ba­ren Wesens,
die Rich­tung auf das Sein
zum Schauen der räum­li­chen Begrenzt­hei­ten.
Beides ist eins dem Ursprung nach
und nur verschie­den durch den Namen.
In seiner Einheit heißt es das Geheim­nis.
Des Geheim­nis­ses noch tiefe­res Geheim­nis
ist das Tor, durch das alle Wunder hervor­tre­ten.

2

Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erken­nen,
so ist dadurch schon das Häßli­che gesetzt.
Wenn auf Erden alle das Gute als gut erken­nen,
so ist dadurch schon das Nicht­gute gesetzt.
Denn Sein und Nicht­sein erzeu­gen einan­der.
Schwer und Leicht voll­enden einan­der.
Lang und Kurz gestal­ten einan­der.
Hoch und Tief verkeh­ren einan­der.
Stimme und Ton sich vermäh­len einan­der.
Vorher und Nach­her folgen einan­der.

Also auch der Beru­fene:
Er verweilt im Wirken ohne Handeln.
Er übt Beleh­rung ohne Reden.
Alle Wesen treten hervor,
und er verwei­gert sich ihnen nicht.
Er erzeugt und besitzt nicht.
Erwirkt und behält nicht.
Ist das Werk voll­bracht,
so verharrt er nicht dabei.
Und eben weil er nicht verharrt,
bleibt er nicht verlas­sen.

3

Die Tüch­ti­gen nicht bevor­zu­gen,
so macht man, daß das Volk nicht strei­tet.
Kost­bar­kei­ten nicht schät­zen,
so macht man, daß das Volk nicht stiehlt.
Nichts Begeh­rens­wer­tes zeigen,
so macht man, daß des Volkes Herz nicht wirr wird.

Darum regiert der Beru­fene also:
Er leert ihre Herzen und füllt ihren Leib.
Er schwächt ihren Willen und stärkt ihre Knochen
und macht, daß das Volk ohne Wissen
und ohne Wünsche bleibt,
und sorgt dafür,
daß jene Wissen­den nicht zu handeln wagen.
Er macht das Nicht­ma­chen,
so kommt alles in Ordnung.

4

Der Sinn ist immer strö­mend.
Aber er läuft in seinem Wirken doch nie über.
Ein Abgrund ist er, wie der Ahn aller Dinge.
Er mildert ihre Schärfe.
Er löst ihre Wirr­sale.
Er mäßigt ihren Glanz.
Er verei­nigt sich mit ihrem Staub.
Tief ist er und doch wie wirk­lich.
Ich weiß nicht, wessen Sohn er ist.
Er scheint früher zu sein als Gott.

5

Himmel und Erde sind nicht gütig.
Ihnen sind die Menschen wie stro­herne Opfer­hunde.
Der Beru­fene ist nicht gütig.
Ihm sind die Menschen wie stro­herne Opfer­hunde.
Der Zwischen­raum zwischen Himmel und Erde
ist wie eine Flöte,
leer und fällt doch nicht zusam­men;
bewegt kommt immer mehr daraus hervor.
Aber viele Worte erschöp­fen sich daran.
Besser ist es, das Innere zu bewah­ren.

6

Der Geist des Tals stirbt nicht,
das heißt das dunkle Weib.
Daß Tor des dunk­len Weibs,
das heißt die Wurzel von Himmel und Erde.
Unun­ter­bro­chen wie behar­rend
wirkt es ohne Mühe.

7

Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd.
Sie sind dauernd und ewig,
weil sie nicht sich selber leben.
Deshalb können sie ewig leben.

Also auch der Beru­fene:
Er setzt sein Selbst hintan,
und sein Selbst kommt voran.
Er entäu­ßert sich seines Selbst,
und sein Selbst bleibt erhal­ten.
Ist es nicht also:
Weil er nichts Eige­nes will,
darum wird sein Eige­nes voll­endet?

8

Höchste Güte ist wie das Wasser.
Des Wassers Güte ist es,
allen Wesen zu nützen ohne Streit.
Es weilt an Orten, die alle Menschen verach­ten.
Drum steht es nahe dem Sinn.
Beim Wohnen zeigt sich die Güte an dem Platze.
Beim Denken zeigt sich die Güte in der Tiefe.
Beim Schen­ken zeigt sich die Güte in der Liebe.
Beim Reden zeigt sich die Güte in der Wahr­heit.
Beim Walten zeigt sich die Güte in der Ordnung.
Beim Wirken zeigt sich die Güte im Können.
Beim Bewe­gen zeigt sich die Güte in der rech­ten Zeit.
Wer sich nicht selbst behaup­tet,
bleibt eben dadurch frei von Tadel.

9

Etwas fest­hal­ten wollen und dabei es über­fül­len:
das lohnt der Mühe nicht.
Etwas hand­ha­ben wollen und dabei es immer scharf halten:
das läßt sich nicht lange bewah­ren.
Mit Gold und Edel­stei­nen gefüll­ten Saal
kann niemand beschüt­zen.
Reich und vornehm und dazu hoch­mü­tig sein:
das zieht von selbst das Unglück herbei.
Ist das Werk voll­bracht, dann sich zurück­zie­hen:
das ist des Himmels Sinn.

10

Kannst du deine Seele bilden, daß sie das Eine umfängt,
ohne sich zu zerstreuen?
Kannst du deine Kraft einheit­lich machen
und die Weich­heit errei­chen,
daß du wie ein Kind­lein wirst?
Kannst du dein gehei­mes Schauen so reini­gen,
daß es frei von Flecken wird?
Kannst du die Menschen lieben und den Staat lenken,
daß du ohne Wissen bleibst?
Kannst du, wenn des Himmels Pfor­ten
sich öffnen und schlie­ßen,
wie eine Henne sein?
Kannst du mit deiner inne­ren Klar­heit und Rein­heit
alles durch­drin­gen, ohne des Handelns zu bedür­fen?
Erzeu­gen und ernäh­ren,
erzeu­gen und nicht besit­zen,
wirken und nicht behal­ten,
mehren und nicht beherr­schen:
das ist gehei­mes Leben.

11

Drei­ßig Spei­chen umge­ben eine Nabe:
In ihrem Nichts besteht des Wagens Werk.
Man höhlet Ton und bildet ihn zu Töpfen:
In ihrem Nichts besteht der Töpfe Werk.
Man gräbt Türen und Fens­ter, damit die Kammer werde:
In ihrem Nichts besteht der Kammer Werk.
Darum: Was ist, dient zum Besitz. Was nicht ist, dient zum Werk.

12

Die fünfer­lei Farben machen der Menschen Augen blind.
Die fünfer­lei Töne machen der Menschen Ohren taub.
Die fünfer­lei Würzen machen der Menschen Gaumen schal.
Rennen und jagen machen der Menschen Herzen toll.
Seltene Güter machen der Menschen Wandel wirr.

Darum wirkt der Beru­fene für den Leib und nicht fürs Auge.
Er entfernt das andere und nimmt dieses.

13

Gnade ist beschä­mend wie ein Schreck.
Ehre ist ein großes Übel wie die Person.
Was heißt das: “Gnade ist beschä­mend wie ein Schreck”?
Gnade ist etwas Minder­wer­ti­ges.
Man erlangt sie und ist wie erschro­cken.
Man verliert sie und ist wie erschro­cken.
Das heißt: “Gnade ist beschä­mend wie ein Schreck”.
Was heißt das: “Ehre ist ein großes Übel wie die Person”?
Der Grund, warum ich große Übel erfahre, ist,
daß ich eine Person habe.
Habe ich keine Person,
was für Übel könnte ich dann erfah­ren?

Darum: Wer in seiner Person die Welt ehrt,
dem kann man wohl die Welt anver­trauen.
Wer in seiner Person die Welt liebt,
dem kann man wohl die Welt über­ge­ben.

14

Man schaut nach ihm und sieht es nicht:
Sein Name ist Keim.
Man horcht nach ihm und hört es nicht:
Sein Name ist Fein.
Man faßt nach ihm und fühlt es nicht:
Sein Name ist Klein.
Diese drei kann man nicht tren­nen,
darum bilden sie vermischt Eines.
Sein Oberes ist nicht licht,
sein Unte­res ist nicht dunkel.
Unun­ter­bro­chen quel­lend,
kann man es nicht nennen.
Er kehrt wieder zurück zum Nicht­we­sen.
Das heißt die gestalt­lose Gestalt,
das ding­lose Bild.
Das heißt das dunkel Chao­ti­sche.
Ihm entge­gen­ge­hend sieht man nicht sein Antlitz,
ihm folgend sieht man nicht seine Rück­seite.
Wenn man fest­hält den Sinn des Alter­tums,
um zu beherr­schen das Sein von heute,
so kann man den alten Anfang wissen.
Das heißt des Sinns durch­ge­hen­der Faden.

15

Die vor alters tüch­tig waren als Meis­ter,
waren im Verbor­ge­nen eins mit den unsicht­ba­ren Kräf­ten.
Tief waren sie, so daß man sie nicht kennen kann.
Weil man sie nicht kennen kann,
darum kann man nur mit Mühe ihr Äuße­res beschrei­ben.
Zögernd, wie wer im Winter einen Fluß durch­schrei­tet,
vorsich­tig, wie wer von allen Seiten Nach­barn fürch­tet,
zurück­hal­tend wie Gäste,
verge­hend wie Eis, das am Schmel­zen ist,
einfach, wie unbe­ar­bei­te­ter Stoff,
weit waren sie, wie das Tal,
undurch­sich­tig waren sie, wie das Trübe.
Wer kann (wie sie) das Trübe durch Stille allmäh­lich klären?
Wer kann (wie sie) die Ruhe
durch Dauer allmäh­lich erzeu­gen?
Wer diesen Sinn bewahrt,
begehrt nicht Fülle.
Denn nur weil er keine Fülle hat,
darum kann er gering sein,
das Neue meiden
und die Voll­endung errei­chen.

16

Schaffe Leere bis zum Höchs­ten!
Wahre die Stille bis zum Völligs­ten!
Alle Dinge mögen sich dann zugleich erhe­ben.
Ich schaue, wie sie sich wenden.
Die Dinge in all ihrer Menge,
ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel.
Rück­kehr zur Wurzel heilst Stille.
Stille heißt Wendung zum Schick­sal.
Wendung zum Schick­sal heißt Ewig­keit.
Erkennt­nis der Ewig­keit heißt Klar­heit.
Erkennt man das Ewige nicht,
so kommt man in Wirr­nis und Sünde.
Erkennt man das Ewige,
so wird man duld­sam.
Duld­sam­keit führt zur Gerech­tig­keit.
Gerech­tig­keit führt zur Herr­schaft.
Herr­schaft führt zum Himmel.
Himmel führt zum Sinn.
Sinn führt zur Dauer.
Sein Leben lang kommt man nicht in Gefahr.

17

Herrscht ein ganz Großer,
so weiß das Volk kaum, daß er da ist.
Mindere werden geliebt und gelobt,
noch Mindere werden gefürch­tet,
noch Mindere werden verach­tet.
Wie über­legt muß man sein in seinen Worten!
Die Werke sind voll­bracht, die Geschäfte gehen ihren Lauf,
und die Leute denken alle:
“Wir sind frei.”

18

Geht der große Sinn zugrunde,
so gibt es Sitt­lich­keit und Pflicht.
Kommen Klug­heit und Wissen auf,
so gibt es die großen Lügen.
Werden die Verwand­ten uneins,
so gibt es Kindes­pflicht und Liebe.
Gera­ten die Staa­ten in Verwir­rung,
so gibt es die treuen Beam­ten.

19

Tut ab die Heilig­keit, werft weg das Wissen,
so wird das Volk hundert­fach gewin­nen.
Tut ab die Sitt­lich­keit, werft weg die Pflicht,
so wird das Volk zurück­keh­ren zu Kindes­pflicht und Liebe.
Tut ab die Geschick­lich­keit, werft weg den Gewinn,
so wird es Diebe und Räuber nicht mehr geben.
In diesen drei Stücken
ist der schöne Schein nicht ausrei­chend.
Darum sorgt, daß die Menschen sich an etwas halten können.
Zeigt Einfach­heit, haltet fest die Lauter­keit!
Mindert Selbst­sucht, verrin­gert die Begier­den!
Gebt auf die Gelehr­sam­keit!
So werdet ihr frei von Sorgen.

20

Zwischen “Gewiß” und “jawohl”:
was ist da für ein Unter­schied?
Zwischen “Gut” und “Böse”;
was ist da für ein Unter­schied?
Was die Menschen ehren, muß man ehren.
0 Einsam­keit, wie lange dauerst Du?
Alle Menschen sind so strah­lend,
als ginge es zum großen Opfer,
als stie­gen sie im Früh­ling auf die Türme.
Nur ich bin so zögernd, mir ward noch kein Zeichen,
wie ein Säug­ling, der noch nicht lachen kann,
unru­hig, umge­trie­ben, als hätte ich keine Heimat.
Alle Menschen haben Über­fluß;
nur ich bin wie verges­sen.
Ich habe das Herz eines Toren, so wirr und dunkel.
Die Welt­men­schen sind hell, ach so hell;
nur ich bin wie trübe.
Die Welt­men­schen sind klug, ach so klug;
nur ich bin wie verschlos­sen in mir,
unru­hig, ach, als wie das Meer,
wirbelnd, ach, ohn Unter­laß.
Alle Menschen haben ihre Zwecke;
nur ich bin müßig wie ein Bett­ler.
Ich allein bin anders als die Menschen:
Doch ich halte es wert,
Nahrung zu suchen bei der Mutter.

21

Des großen Lebens Inhalt
folgt ganz dem Sinn.
Der Sinn bewirkt die Dinge
so chao­tisch, so dunkel.
Chao­tisch, dunkel
sind in ihm Bilder.
Dunkel, chao­tisch
sind in ihm Dinge.
Uner­gründ­lich fins­ter
ist in ihm Same.
Dieser Same ist ganz wahr.
In ihm ist Zuver­läs­sig­keit.
Von alters bis heute
sind die Namen nicht zu entbeh­ren,
um zu über­schauen alle Dinge.
Woher weiß ich aller Dinge Art?
Eben durch sie.

22

Was halb ist, wird ganz werden.
Was krumm ist, wird gerade werden.
Was leer ist, wird voll werden.
Was alt ist, wird neu werden.
Wer wenig hat, wird bekom­men.
Wer viel hat, wird benom­men.

Also auch der Beru­fene:
Er umfaßt das Eine
und ist der Welt Vorbild.
Er will nicht selber schei­nen,
darum wird er erleuch­tet.
Er will nichts selber sein,
darum wird er herr­lich.
Er rühmt sich selber nicht,
darum voll­bringt er Werke.
Er tut sich nicht selber hervor,
darum wird er erho­ben.
Denn wer nicht strei­tet,
mit dem kann niemand auf der Welt strei­ten.
Was die Alten gesagt: “Was halb ist, soll voll werden”,
ist fürwahr kein leeres Wort.
Alle wahre Voll­kom­men­heit ist darun­ter befaßt.

23

Macht selten die Worte,
dann geht alles von selbst.
Ein Wirbel­sturm dauert keinen Morgen lang.
Ein Platz­re­gen dauert keinen Tag.
Und wer wirkt diese?
Himmel und Erde.
Was nun selbst Himmel und Erde nicht dauernd vermö­gen,
wieviel weni­ger kann das der Mensch?

Darum: Wenn du an dein Werk gehst mit dem Sinn,
so wirst du mit denen, so den Sinn haben, eins im Sinn,
mit denen, so das Leben haben, eins im Leben,
mit denen, so arm sind, eins in ihrer Armut.
Bist du eins mit ihnen im Sinn,
so kommen dir die, so den Sinn haben, auch freu­dig entge­gen.
Bist du eins mit ihnen im Leben,
so kommen dir die, so das Leben haben, auch freu­dig entge­gen.
Bist du eins mit ihnen in ihrer Armut,
so kommen dir die, so da arm sind, auch freu­dig entge­gen.
Wo aber der Glaube nicht stark genug ist,
da findet man keinen Glau­ben.

24

Wer auf den Zehen steht,
steht nicht fest.
Wer mit gespreiz­ten Beinen geht,
kommt nicht voran.
Wer selber schei­nen will,
wird nicht erleuch­tet.
Wer selber etwas sein will,
wird nicht herr­lich.
Wer selber sich rühmt,
voll­bringt nicht Werke.
Wer selber sich hervor­tut,
wird nicht erho­ben.
Er ist für den Sinn wie Küchen­ab­fall und Eiter­beule.
Und auch die Geschöpfe alle hassen ihn.
Darum: Wer den Sinn hat,
weilt nicht dabei.

25

Es gibt ein Ding, das ist unter­schieds­los voll­endet.
Bevor der Himmel und die Erde waren, ist es schon da,
so still, so einsam.
Allein steht es und ändert sich nicht.
Im Kreis läuft es und gefähr­det sich nicht.
Man kann es nennen die Mutter der Welt.
Ich weiß nicht seinen Namen.
Ich bezeichne es als Sinn.
Mühsam einen Namen ihm gebend,
nenne ich es: groß.
Groß, das heißt immer bewegt.
Immer bewegt, das heißt ferne.
Ferne, das heißt zurück­keh­rend.
So ist der Sinn groß, der Himmel groß, die Erde groß,
und auch der Mensch ist groß.
Vier Große gibt es im Räume,
und der Mensch ist auch darun­ter.
Der Mensch rich­tet sich nach der Erde.
Die Erde rich­tet sich nach dem Himmel.
Der Himmel rich­tet sich nach dem Sinn.
Der Sinn rich­tet sich nach sich selber.

26

Das Gewich­tige ist des Leich­ten Wurzel.
Die Stille ist der Unruhe Herr.

Also auch der Beru­fene:
Er wandert den ganzen Tag,
ohne sich vom schwe­ren Gepäck zu tren­nen.
Mag er auch alle Herr­lich­kei­ten vor Augen haben:
Er weilt zufrie­den in seiner Einsam­keit.
Wieviel weni­ger erst darf der Herr des Reiches
in seiner Person den Erdkreis leicht nehmen!
Durch Leicht­neh­men verliert man die Wurzel.
Durch Unruhe verliert man die Herr­schaft.

27

Ein guter Wande­rer läßt keine Spur zurück.
Ein guter Redner braucht nichts zu wider­le­gen.
Ein guter Rech­ner braucht keine Rechen­stäb­chen.
Ein guter Schlie­ßer braucht nicht Schloß noch Schlüs­sel,
und doch kann niemand auftun.
Ein guter Binder braucht nicht Strick noch Bänder,
und doch kann niemand lösen.
Der Beru­fene versteht es immer gut, die Menschen zu retten;
darum gibt es für ihn keine verwor­fe­nen Menschen.
Er versteht es immer gut, die Dinge zu retten;
darum gibt es für ihn keine verwor­fe­nen Dinge.
Das heißt die Klar­heit erben.
So sind die guten Menschen die Lehrer der Nicht­gu­ten,
und die nicht­gu­ten Menschen sind der Stoff für die Guten.
Wer seine Lehrer nicht wert­hielte
und seinen Stoff nicht liebte,
der wäre bei allem Wissen in schwe­rem Irrtum.
Das ist das große Geheim­nis.

28

Wer seine Mann­heit kennt
und seine Weib­heit wahrt,
der ist die Schlucht der Welt.
Ist er die Schlucht der Welt,
so verläßt ihn nicht das ewige Leben,
und er wird wieder wie ein Kind.

Wer seine Rein­heit kennt
und seine Schwä­che wahrt,
ist Vorbild für die Welt.
Ist Vorbild er der Welt,
so weicht von ihm nicht das ewige Leben,
und er kehrt wieder zum Unge­wor­de­nen um.

Wer seine Ehre kennt
und seine Schmach bewahrt,
der ist das Tal der Welt.
Ist er das Tal der Welt,
so hat er Genüge am ewigen Leben,
und er kehrt zurück zur Einfalt.

Ist die Einfalt zerstreut, so gibt es “brauch­bare” Menschen.
Übt der Beru­fene sie aus, so wird er der Herr der Beam­ten.
Darum: Groß­ar­tige Gestal­tung
bedarf nicht des Beschnei­dens.

29

Die Welt erobern und behan­deln wollen,
ich habe erlebt, daß das mißlingt.
Die Welt ist ein geis­ti­ges Ding,
das man nicht behan­deln darf.
Wer sie behan­delt, verdirbt sie,
wer sie fest­hal­ten will, verliert sie.
Die Dinge gehen bald voran, bald folgen sie,
bald hauchen sie warm, bald blasen sie kalt,
bald sind sie stark, bald sind sie dünn,
bald schwim­men sie oben, bald stür­zen sie
Darum meidet der Beru­fene
das Zusehr, das Zuviel, das Zugroß.

30

Wer im rech­ten Sinn einem Menschen­herr­scher hilft,
verge­wal­tigt nicht durch Waffen die Welt,
denn die Hand­lun­gen kommen auf das eigene Haupt zurück.
Wo die Heere geweilt haben, wach­sen Disteln und Dornen.
Hinter den Kämp­fen her kommen immer Hunger­jahre.
Darum sucht der Tüch­tige nur Entschei­dung, nichts weiter;
er wagt nicht, durch Gewalt zu erobern.
Entschei­dung, ohne sich zu brüs­ten,
Entschei­dung, ohne sich zu rühmen,
Entschei­dung, ohne stolz zu sein,
Entschei­dung, weil’s nicht anders geht,
Entschei­dung, ferne von Gewalt.

31

Waffen sind unheil­volle Geräte,
alle Wesen hassen sie wohl.
Darum will der, der den rech­ten Sinn hat,
nichts von ihnen wissen.
Der Edle in seinem gewöhn­li­chen Leben
achtet die Linke als Ehren­platz.
Beim Waffen­hand­werk ist die Rechte der Ehren­platz.
Die Waffen sind unheil­volle Geräte,
nicht Geräte für den Edlen.
Nur wenn er nicht anders kann, gebraucht er sie,
Ruhe und Frie­den sind ihm das Höchste.
Er siegt, aber er freut sich nicht daran.
Wer sich daran freuen wollte,
würde sich ja des Menschen­mor­des freuen.
Wer sich des Menschen­mor­des freuen wollte,
kann nicht sein Ziel errei­chen in der Welt.
Bei Glücks­fäl­len achtet man die Linke als Ehren­platz.
Bei Unglücks­fäl­len achtet man die Rechte .als Ehren­platz.
Der Unter­feld­herr steht zur Linken,
der Ober­füh­rer steht zur Rech­ten.
Das heißt, er nimmt seinen Platz ein
nach dem Brauch der Trau­er­fei­ern.
Menschen töten in großer Zahl,
das soll man bekla­gen mit Tränen des Mitleids.
Wer im Kampfe gesiegt,
der soll wie bei einer Trau­er­feier weilen.

32

Der Sinn als Ewiger ist namen­lose Einfalt.
Obwohl klein,
wagt die Welt ihn nicht zum Diener zu machen.
Wenn Fürs­ten und Könige ihn so wahren könn­ten,
so würden alle Dinge sich als Gäste einstel­len.
Himmel und Erde würden sich verei­nen,
um süßen Tau zu träu­feln.
Das Volk würde ohne Befehle
von selbst ins Gleich­ge­wicht kommen.
Wenn die Gestal­tung beginnt,
dann erst gibt es Namen.
Die Namen errei­chen auch das Sein,
und man weiß auch noch, wo halt­zu­ma­chen ist.
Weiß man, wo halt­zu­ma­chen ist,
so kommt man nicht in Gefahr.
Man kann das Verhält­nis des Sinns zur Welt verglei­chen
mit den Berg­bä­chen und Talwas­sern,
die sich in Ströme und Meere ergie­ßen.

33

Wer andre kennt, ist klug.
Wer sich selber kennt, ist weise.
Wer andere besiegt, hat Kraft.
Wer sich selber besiegt, ist stark.
Wer sich durch­setzt, hat Willen.
Wer sich genü­gen läßt, ist reich.
Wer seinen Platz nicht verliert, hat Dauer.
Wer auch im Tode nicht unter­geht, der lebt.

34

Der große Sinn ist über­strö­mend;
er kann zur Rech­ten sein und zur Linken.
Alle Dinge verdan­ken ihm ihr Dasein,
und er verwei­gert sich ihnen nicht.
Ist das Werk voll­bracht,
so heißt er es nicht seinen Besitz.
Er klei­det und nährt alle Dinge
und spielt nicht ihren Herrn.
Sofern er ewig nicht begeh­rend ist,
kann man ihn als klein bezeich­nen.
Sofern alle Dinge von ihm abhän­gen,
ohne ihn als Herrn zu kennen,
kann man ihn als groß bezeich­nen.

Also auch der Beru­fene:
Niemals macht er sich groß;
darum bringt er sein Großes Werk zustande.

35

Wer fest­hält das große Urbild,
zu dem kommt die Welt.
Sie kommt und wird nicht verletzt,
in Ruhe, Gleich­heit und Selig­keit.

Musik und Köder:
Sie machen wohl den Wande­rer auf seinem Wege anhal­ten.
Der Sinn geht aus dem Munde hervor,
milde und ohne Geschmack.
Du blickst nach ihm und siehst nichts Sonder­li­ches.
Du horchst nach ihm und hörst nichts Sonder­li­ches.
Du handelst nach ihm und findest kein Ende.

36

Was du zusam­men­drü­cken willst,
das mußt du erst rich­tig sich ausdeh­nen lassen.
Was du schwä­chen willst,
das mußt du erst rich­tig stark werden lassen.
Was du vernich­ten willst,
das mußt du erst rich­tig aufblü­hen lassen.
Wem du nehmen willst,
dem mußt du erst rich­tig geben.
Das heißt Klar­heit über das Unsicht­bare.
Das Weiche siegt über das Harte.
Das Schwa­che siegt über das Starke.
Den Fisch darf man nicht der Tiefe entneh­men.
Des Reiches Förde­rungs­mit­tel
darf man nicht den Leuten zeigen.

37

Der Sinn ist ewig ohne Machen,
und nichts bleibt unge­macht.
Wenn Fürs­ten und Könige ihn zu wahren verste­hen,
so werden alle Dinge sich von selber gestal­ten.
Gestal­ten sie sich und es erhe­ben sich die Begier­den,
so würde ich sie bannen durch namen­lose Einfalt.
Namen­lose Einfalt bewirkt Wunsch­lo­sig­keit.
Wunsch­lo­sig­keit macht still,
und die Welt wird von selber recht.

38

Wer das Leben hoch­hält, weiß nichts vom Leben;
darum hat er Leben.
Wer das Leben nicht hoch­hält,
sucht das Leben nicht zu verlie­ren;
darum hat er kein Leben.
Wer das Leben hoch­hält,
handelt nicht und hat keine Absich­ten.
Wer das Leben nicht hoch­hält,
handelt und hat Absich­ten.
Wer die Liebe hoch­hält, handelt, aber hat keine Absich­ten.
Wer die Gerech­tig­keit hoch­hält, handelt und hat Absich­ten.
Wer die Sitte hoch­hält, handelt,
und wenn ihm jemand nicht erwi­dert,
so fuch­telt er mit den Armen und holt ihn heran.
Darum: Ist der Sinn verlo­ren, dann das Leben.
Ist das Leben verlo­ren, dann die Liebe.
Ist die Liebe verlo­ren, dann die Gerech­tig­keit.
Ist die Gerech­tig­keit verlo­ren, dann die Sitte.
Die Sitte ist Treu und Glau­bens Dürf­tig­keit
und der Verwir­rung Anfang.
Vorher­wis­sen ist des SinnES Schein
und der Torheit Beginn.
Darum bleibt der rechte Mann beim Völli­gen
und nicht beim Dürf­ti­gen.
Er wohnt im Sein und nicht im Schein.
Er tut das andere ab und hält sich an dieses.

39

Die einst das Eine erlang­ten:
Der Himmel erlangte das Eine und wurde rein.
Die Erde erlangte das Eine und wurde fest.
Die Götter erlang­ten das Eine und wurden mäch­tig.
Das Tal erlangte das Eine und erfüllte sich.
Alle Dinge erlang­ten das Eine und entstan­den.
Könige und Fürs­ten erlang­ten das Eine
und wurden das Vorbild der Welt.
Das alles ist durch das Eine bewirkt.
Wäre der Himmel nicht rein dadurch, so müßte er bers­ten.
Wäre die Erde nicht fest dadurch, so müßte sie wanken.
Wären die Götter nicht mäch­tig dadurch, so müßten sie erstar­ren.
Wäre das Tal nicht erfüllt dadurch, so müßte es sich erschöp­fen.
Wären alle Dinge nicht erstan­den dadurch, so müßten sie erlö­schen.
Wären die Könige und Fürs­ten nicht erha­ben dadurch, so müßten sie stür­zen.
Darum: Das Edle hat das Geringe zur Wurzel.
Das Hohe hat das Nied­rige zur Grund­lage.
Also auch die Fürs­ten und Könige:
Sie nennen sich: “Einsam”, “Verwaist”, “Wenig­keit”.
Dadurch bezeich­nen sie das Geringe als ihre Wurzel.
Oder ist es nicht so?
Denn: Ohne die einzel­nen Bestand­teile eines Wagens
gibt es keinen Wagen.
Wünsche nicht das glän­zende Glei­ßen des Juwels,
sondern die rohe Rauheit des Steins.

40

Rück­kehr ist die Bewe­gung des Sinns.
Schwach­heit ist die Wirkung des Sinns.
Alle Dinge unter dem Himmel entste­hen im Sein.
Das Sein entsteht im Nicht­sein.

41

Wenn ein Weiser höchs­ter Art vom Sinn hört,
so ist er eifrig und tut danach.
Wenn ein Weiser mitt­le­rer Art vom Sinn hört,
so glaubt er halb, halb zwei­felt er.
Wenn ein Weiser nied­ri­ger Art vom Sinn hört,
so lacht er laut darüber.
Wenn er nicht laut lacht,
so war es noch nicht der eigent­li­che Sinn.

Darum hat ein Spruch­dich­ter die Worte:
“Der klare Sinn erscheint dunkel.
Der Sinn des Fort­schritts erscheint als Rück­zug.
Das höchste Leben erscheint als Tal.
Der ebene Sinn erscheint rauh.
Die höchste Rein­heit erscheint als Schmach.
Das weite Leben erscheint als unge­nü­gend.
Das starke Leben erscheint verstoh­len.
Das wahre Wesen erscheint verän­der­lich.
Das große Geviert hat keine Ecken.
Das große Gerät wird spät voll­endet.
Der große Ton hat unhör­ba­ren Laut.
Das große Bild hat keine Form.”

Der Sinn in seiner Verbor­gen­heit ist ohne Namen.
Und doch ist gerade der Sinn gut
im Spen­den und Voll­enden.

42

Der Sinn erzeugt die Eins.
Die Eins erzeugt die Zwei.
Die Zwei erzeugt die Drei.
Die Drei erzeugt alle Dinge.
Alle Dinge haben im Rücken das Dunkle
und stre­ben nach dem Licht,
und die strö­mende Kraft gibt ihnen Harmo­nie.

Was die Menschen hassen,
ist Verlas­sen­heit, Einsam­keit, Wenig­keit.
Und doch wählen Fürs­ten und Könige
sie zu ihrer Selbst­be­zeich­nung.
Denn die Dinge werden
entwe­der durch Verrin­ge­rung vermehrt
oder durch Vermeh­rung verrin­gert.
Was andre lehren, lehre ich auch:
“Die Star­ken ster­ben nicht eines natür­li­chen Todes”.
Das will ich zum Ausgangs­punkt meiner Lehre machen.

43

Das Aller­weichste auf Erden
über­holt das Aller­här­teste auf Erden.
Das Nicht­sei­ende dringt auch noch ein in das,
was keinen Zwischen­raum hat.
Daran erkennt man den Wert des Nicht-Handelns.
Die Beleh­rung ohne Worte, den Wert des Nicht-Handelns
errei­chen nur wenige auf Erden.

44

Der Name oder die Person:
was steht näher?
Die Person oder der Besitz:
was ist mehr?
Gewin­nen oder verlie­ren:
was ist schlim­mer?

Nun aber:
Wer sein Herz an andres hängt,
verbraucht notwen­dig Großes.
Wer viel sammelt,
verliert notwen­dig Wich­ti­ges.
Wer sich genü­gen lässet,
kommt nicht in Schande.
Wer Einhalt zu tun weiß,
kommt nicht in Gefahr
und kann so ewig dauern.

45

Große Voll­endung muß wie unzu­läng­lich erschei­nen,
so wird sie unend­lich in ihrer Wirkung.
Große Fülle muß wie strö­mend erschei­nen,
so wird sie uner­schöpf­lich in ihrer Wirkung.
Große Gerad­heit muß wie krumm erschei­nen.
Große Bega­bung muß wie dumm erschei­nen.
Große Bered­sam­keit muß wie stumm erschei­nen.
Bewe­gung über­win­det die Kälte.
Stille über­win­det die Hitze.
Rein­heit und Stille sind der Welt Richt­maß.

46

Wenn der Sinn herrscht auf Erden,
so tut man die Renn­pferde ab zum Dung­füh­ren.
Wenn der Sinn abhan­den ist auf Erden,
so werden Kriegs­rosse gezüch­tet auf dem Anger.
Es gibt keine größere Sünde als viele Wünsche.
Es gibt kein größe­res Übel als kein Genüge kennen.
Es gibt keinen größe­ren Fehler als haben wollen.

Darum:
Das Genü­gen der Genüg­sam­keit ist dauern­des Genü­gen.

47

Ohne aus der Tür zu gehen,
kennt man die Welt.
Ohne aus dem Fens­ter zu schauen,
sieht man den Sinn des Himmels.
Je weiter einer hinaus­geht,
desto gerin­ger wird sein Wissen.

Darum braucht der Beru­fene nicht zu gehen
und weiß doch alles.
Er braucht nicht zu sehen
und ist doch klar.
Er braucht nichts zu machen
und voll­endet doch.

48

Wer das Lernen übt, vermehrt täglich.
Wer den Sinn übt, vermin­dert täglich.
Er vermin­dert und vermin­dert,
bis er schließ­lich ankommt beim Nichts­ma­chen.
Beim Nichts­ma­chen bleibt nichts unge­macht.
Das Reich erlan­gen kann man nur,
wenn man immer frei bleibt von Geschäf­tig­keit.
Die Viel­be­schäf­tig­ten sind nicht geschickt,
das Reich zu erlan­gen.

49

Der Beru­fene hat kein eige­nes Herz.
Er macht das Herz der Leute zu seinem Herzen.
Zu den Guten bin ich gut,
zu den Nicht­gu­ten bin ich auch gut;
denn das Leben ist die Güte.
Zu den Treuen bin ich treu,
zu den Untreuen bin ich auch treu;
denn das Leben ist die Treue.
Der Beru­fene lebt in der Welt ganz still
und macht sein Herz für die Welt weit.
Die Leute alle blicken und horchen nach ihm.
Und der Beru­fene nimmt sie alle an als seine Kinder.

50

Ausge­hen ist Leben, einge­hen ist Tod.
Gesel­len des Lebens gibt es drei unter zehn,
Gesel­len des Todes gibt es drei unter zehn.
Menschen, die leben und dabei sich auf den Ort des Todes zube­we­gen,
gibt es auch drei unter zehn.
Was ist der Grund davon?
Weil sie ihres Lebens Stei­ge­rung erzeu­gen wollen.
Ich habe wohl gehört, wer gut das Leben zu führen weiß,
der wandert über Land und trifft nicht Nashorn noch Tiger.
Er schrei­tet durch ein Heer und meidet nicht Panzer und Waffen.
Das Nashorn findet nichts, worein es sein Hörn bohren kann.
Der Tiger findet nichts, darein er seine Kral­len schla­gen kann.
Die Waffe findet nichts, das ihre Schärfe aufneh­men kann.
Warum das?
Weil er keine sterb­li­che Stelle hat.

51

Der Sinn erzeugt.
Das Leben nährt.
Die Umge­bung gestal­tet.
Die Einflüsse voll­enden.
Darum ehren alle Wesen den Sinn
und schät­zen das Leben.
Der Sinn wird geehrt,
das Leben wird geschätzt
ohne äußere Ernen­nung, ganz von selbst.

Also: der Sinn erzeugt, das Leben nährt,
läßt wach­sen, pflegt,
voll­endet, hält,
bedeckt und schirmt.

52

Die Welt hat einen Anfang,
das ist die Mutter der Welt.
Wer die Mutter findet,
um ihre Söhne zu kennen,
wer ihre Söhne kennt
und sich wieder zur Mutter wendet,
der kommt sein Leben lang nicht in Gefahr.
Wer seinen Mund schließt
und seine Pfor­ten zumacht,
der kommt sein Leben lang nicht in Mühen.
Wer seinen Mund auftut
und seine Geschäfte in Ordnung brin­gen will,
dem ist sein Leben lang nicht zu helfen.
Das Kleinste sehen heißt klar sein.
Die Weis­heit wahren heißt stark sein.
Wenn man sein Licht benützt,
um zu dieser Klar­heit zurück­zu­keh­ren,
so bringt man seine Person nicht in Gefahr.
Das heißt die Hülle der Ewig­keit.

53

Wenn ich wirk­lich weiß, was es heißt,
im großen Sinn zu leben,
so ist es vor allem die Geschäf­tig­keit,
die ich fürchte.
Wo die großen Stra­ßen schön und eben sind,
aber das Volk Seiten­wege liebt;
wo die Hofge­setze streng sind,
aber die Felder voll Unkraut stehen;
wo die Scheu­nen ganz leer sind,
aber die Klei­dung schmuck und präch­tig ist;
wo jeder ein schar­fes Schwert im Gürtel trägt;
wo man heikel ist im Essen und Trin­ken
und Güter im Über­fluß sind:
da herrscht Verwir­rung, nicht Regie­rung.

54

Was gut gepflanzt ist, wird nicht ausge­ris­sen.
Was gut fest­ge­hal­ten wird, wird nicht entge­hen.
Wer sein Gedächt­nis Söhnen und Enkeln hinter­läßt,
hört nicht auf.
Wer seine Person gestal­tet, dessen Leben wird wahr.
Wer seine Fami­lie gestal­tet, dessen Leben wird völlig.
Wer seine Gemeinde gestal­tet, dessen Leben wird wach­sen.
Wer sein Land gestal­tet, dessen Leben wird reich.
Wer die Welt gestal­tet, dessen Leben wird weit.
Darum: Nach deiner Person beur­teile die Person des andern.
Nach deiner Fami­lie beur­teile die Fami­lie der andern.
Nach deiner Gemeinde beur­teile die Gemeinde der andern.
Nach deinem Land beur­teile das Land der andern.
Nach deiner Welt beur­teile die Welt der andern.
Wie weiß ich die Beschaf­fen­heit der Welt?
Eben durch dies.

55

Wer fest­hält des Lebens Völlig­keit,
der gleicht einem neuge­bo­re­nen Kind­lein:
Giftige Schlan­gen stechen es nicht.
Reißende Tiere packen es nicht.
Raub­vö­gel stoßen nicht nach ihm.
Seine Knochen sind schwach, seine Sehnen weich,
und doch kann es fest zugrei­fen.
Es weiß noch nichts von Mann und Weib,
und doch regt sich sein Blut,
weil es des Samens Fülle hat.
Es kann den ganzen Tag schreien,
und doch wird seine Stimme nicht heiser,
weil es des Frie­dens Fülle hat.
Den Frie­den erken­nen heißt ewig sein.
Die Ewig­keit erken­nen heißt klar sein.
Das Leben mehren nennt man Glück.
Für sein Begeh­ren seine Kraft einset­zen nennt man stark.
Sind die Dinge stark gewor­den, altern sie.
Denn das ist Wider- Sinn.
Und Wider- Sinn ist nahe dem Ende.

56

Der Wissende redet nicht.
Der Redende weiß nicht.
Man muß seinen Mund schlie­ßen
und seine Pfor­ten zuma­chen,
seinen Scharf­sinn abstump­fen,
seine wirren Gedan­ken auflö­sen,
sein Licht mäßi­gen,
sein Irdi­sches gemein­sam machen.
Das heißt verbor­gene Gemein­sam­keit (mit dem Sinn).
Wer die hat, den kann man nicht beein­flus­sen durch Liebe
und kann ihn nicht beein­flus­sen durch Kälte.
Man kann ihn nicht beein­flus­sen durch Gewinn
und kann ihn nicht beein­flus­sen durch Scha­den.
Man kann ihn nicht beein­flus­sen durch Herr­lich­keit
und kann ihn nicht beein­flus­sen durch Nied­rig­keit.
Darum ist er der Herr­lichste auf Erden.

57

Zur Leitung des Staa­tes braucht man Regie­rungs­kunst,
zum Waffen­hand­werk braucht man
außer­or­dent­li­che Bega­bung.
Um aber die Welt zu gewin­nen,
muß man frei sein von Geschäf­tig­keit.
Woher weiß ich, daß es also mit der Welt steht?
je mehr es Dinge in der Welt gibt, die man nicht tun darf,
desto mehr verarmt das Volk.
je mehr die Menschen scharfe Geräte haben,
desto mehr kommen Haus und Staat ins Verder­ben.
je mehr die Leute Kunst und Schlau­heit pfle­gen,
desto mehr erhe­ben sich böse Zeichen.
je mehr die Gesetze und Befehle pran­gen,
desto mehr gibt es Diebe und Räuber.

Darum spricht ein Beru­fe­ner:
Wenn wir nichts machen,
so wandelt sich von selbst das Volk.
Wenn wir die Stille lieben,
so wird das Volk von selber recht.
Wenn wir nichts unter­neh­men,
so wird das Volk von selber reich.
Wenn wir keine Begier­den haben,
so wird das Volk von selber einfäl­tig.

58

Wessen Regie­rung still und unauf­dring­lich ist,
dessen Volk ist aufrich­tig und ehrlich.
Wessen Regie­rung scharf­sin­nig und stramm ist,
dessen Volk ist hinter­lis­tig und unzu­ver­läs­sig.
Das Unglück ist’s, worauf das Glück beruht;
das Glück ist es, worauf das Unglück lauert.
Wer erkennt aber, daß es das Höchste ist,
wenn nicht geord­net wird?
Denn sonst verkehrt die Ordnung sich in Wunder­lich­kei­ten,
und das Gute verkehrt sich in Aber­glaube.
Und die Tage der Verblen­dung des Volkes
dauern wahr­lich lange.

Also auch der Beru­fene:
Er ist Vorbild, ohne zu beschnei­den,
er ist gewis­sen­haft, ohne zu verlet­zen,
er ist echt, ohne Will­kür­lich­kei­ten,
er ist licht, ohne zu blen­den.

59

Bei der Leitung der Menschen und beim Dienst des Himmels
gibt es nichts Besse­res als Beschrän­kung.
Denn nur durch Beschrän­kung
kann man früh­zei­tig die Dinge behan­deln.
Durch früh­zei­ti­ges Behan­deln der Dinge
sammelt man doppelt die Kräfte des Lebens.
Durch diese verdop­pel­ten Kräfte des Lebens
ist man jeder Lage gewach­sen.
Ist man jeder Lage gewach­sen,
so kennt niemand unsere Gren­zen.
Wenn niemand unsere Gren­zen kennt,
können wir die Welt besit­zen.
Besitzt man die Mutter der Welt,
so gewinnt man ewige Dauer.
Das ist der Sinn der tiefen Wurzel,
des ewigen Daseins
des festen Grun­des,
und des dauern­den Schau­ens.

60

Ein großes Land muß man leiten,
wie man kleine Fisch­lein brät.
Wenn man die Welt verwal­tet nach dem Sinn,
dann gehen die Abge­schie­de­nen nicht als Geis­ter um.
Nicht, daß die Abge­schie­de­nen keine Geis­ter wären,
doch ihre Geis­ter scha­den den Menschen nicht.
Nicht nur die Geis­ter scha­den den Menschen nicht:
auch der Beru­fene scha­det ihnen nicht.
Wenn nun diese beiden Mächte einan­der nicht verlet­zen,
so verei­ni­gen sich ihre Lebens­kräfte in ihrer Wirkung.

61

Indem ein großes Reich sich strom­ab­wärts hält,
wird es die Verei­ni­gung der Welt.
Es ist das Weib­li­che der Welt.
Das Weib­li­che siegt immer
durch seine Stille über das Männ­li­che.
Durch seine Stille hält es sich unten.
Wenn so das große Reich sich unter das kleine stellt,
so gewinnt es dadurch das kleine Reich.
Wenn das kleine Reich sich unter das große stellt,
so wird es dadurch von dem großen Reich gewon­nen.
So wird das eine dadurch, daß es sich unten hält, gewin­nen,
und das andere dadurch, daß es sich unten hält, gewon­nen.
Das große Reich will nichts ande­res
als die Menschen verei­ni­gen und nähren.
Das kleine Reich will nichts ande­res
als sich betei­li­gen am Dienst der Menschen.
So erreicht jedes, was es will;
aber das große muß unten blei­ben.

62

Der Sinn ist aller Dinge Heimat,
der guten Menschen Schatz,
der nicht­gu­ten Menschen Schutz.
Mit schö­nen Worten kann man zu Markte gehen.
Mit ehren­haf­tem Wandel
kann man sich vor ändern hervor­tun.
Aber die Nicht­gu­ten unter den Menschen,
warum sollte man die wegwer­fen?
Darum ist der Herr­scher einge­setzt,
und die Fürs­ten haben ihr Amt.
Ob man auch Zepter von Juwe­len hätte,
um sie im feier­li­chen Vierer­zug zu über­sen­den,
nicht kommt das der Gabe gleich,
wenn man diesen Sinn
auf seinen Knien dem Herr­scher darbringt.
Warum hiel­ten die Alten diesen Sinn so wert?
Ist es nicht deshalb, daß es von ihm heißt:
“Wer bittet, der empfängt;
wer Sünden hat, dem werden sie verge­ben”?
Darum ist er das Köst­lichste auf Erden.

63

Wer das Nicht­han­deln übt,
sich mit Beschäf­ti­gungs­lo­sig­keit beschäf­tigt,
Geschmack findet an dem, was nicht schmeckt:
der sieht das Große im Klei­nen und das Viele im Weni­gen.
Er vergilt Groll durch Leben.
Plane das Schwie­rige da, wo es noch leicht ist!
Tue das Große da, wo es noch klein ist!
Alles Schwere auf Erden beginnt stets als Leich­tes.
Alles Große auf Erden beginnt stets als Klei­nes.

Darum: Tut der Beru­fene nie etwas Großes,
so kann er seine großen Taten voll­enden.
Wer leicht verspricht,
hält sicher selten Wort.
Wer vieles leicht nimmt,
hat sicher viele Schwie­rig­kei­ten.
Darum: Bedenkt der Beru­fene die Schwie­rig­kei­ten,
so hat er nie Schwie­rig­kei­ten.

64

Was noch ruhig ist, läßt sich leicht ergrei­fen.
Was noch nicht hervor­tritt, läßt sich leicht beden­ken.
Was noch zart ist, läßt sich leicht zerbre­chen.
Was noch klein ist, läßt sich leicht zerstreuen.
Man muß wirken auf das, was noch nicht da ist.
Man muß ordnen, was noch nicht in Verwir­rung ist.
Ein Baum von einem Klaf­ter Umfang
entsteht aus einem haar­fei­nen Hälm­chen.
Ein neun Stufen hoher Turm
entsteht aus einem Häuf­chen Erde.
Eine tausend Meilen weite Reise
beginnt vor deinen Füßen.
Wer handelt, verdirbt es.
Wer fest­hält, verliert es.

Also auch der Beru­fene:
Er handelt nicht, so verdirbt er nichts.
Er hält nicht fest, so verliert er nichts.
Die Leute gehen an ihre Sachen,
und immer wenn sie fast fertig sind,
so verder­ben sie es.
Das Ende ebenso in acht nehmen wie den Anfang,
dann gibt es keine verdor­be­nen Sachen.

Also auch der Beru­fene:
Er wünscht Wunsch­lo­sig­keit.
Er hält nicht wert schwer zu erlan­gende Güter.
Er lernt das Nicht­ler­nen.
Er wendet sich zu dem zurück, an dem die Menge vorüber­geht.
Dadurch fördert er den natür­li­chen Lauf der Dinge
und wagt nicht zu handeln.

65

Die vor alters tüch­tig waren
im Walten nach dem Sinn,
taten es nicht durch Aufklä­rung des Volkes,
sondern dadurch, daß sie das Volk töricht hiel­ten.
Daß das Volk schwer zu leiten ist,
kommt daher, daß es zuviel weiß.

Darum: Wer durch Wissen den Staat leitet,
ist der Räuber des Staats.
Wer nicht durch Wissen den Staat leitet,
ist das Glück des Staats.
Wer diese beiden Dinge weiß, der hat ein Ideal.
Immer dies Ideal zu kennen, ist verbor­ge­nes Leben.
Verbor­ge­nes Leben ist tief, weit­rei­chend,
anders als alle Dinge;
aber zuletzt bewirkt es das große Gelin­gen.

66

Daß Ströme und Meere Könige aller Bäche sind,
kommt daher, daß sie sich gut unten halten können.
Darum sind sie die Könige aller Bäche.

Also auch der Beru­fene:
Wenn er über seinen Leuten stehen will,
so stellt er sich in seinem Reden unter sie.
Wenn er seinen Leuten voran sein will,
so stellt er sich in seiner Person hintan.
Also auch:
Er weilt in der Höhe,
und die Leute werden durch ihn nicht belas­tet.
Er weilt am ersten Platze,
und die Leute werden von ihm nicht verletzt.
Also auch:
Die ganze Welt ist willig, ihn voran­zu­brin­gen,
und wird nicht unwil­lig.
Weil er nicht strei­tet,
kann niemand auf der Welt mit ihm strei­ten.

67

Alle Welt sagt, mein Sinn sei zwar groß,
aber sozu­sa­gen unbrauch­bar.
Gerade weil er groß ist,
deshalb ist er sozu­sa­gen unbrauch­bar.
Wenn er brauch­bar wäre,
so wäre er längst klein gewor­den.
Ich habe drei Schätze,
die ich schätze und wahre.
Der eine heißt: die Liebe;
der zweite heißt: die Genüg­sam­keit;
der dritte heißt: nicht wagen, in der Welt voran­zu­ste­hen.
Durch Liebe kann man mutig sein,
durch Genüg­sam­keit kann man weit­her­zig sein.
Wenn man nicht wagt, in der Welt voran­zu­ste­hen,
kann man das Haupt der ferti­gen Menschen sein.
Wenn man nun ohne Liebe mutig sein will,
wenn man ohne Genüg­sam­keit weit­her­zig sein will,

wenn man ohne zurück­zu­ste­hen
voran­kom­men will:
das ist der Tod.
Wenn man Liebe hat im Kampf,
so siegt man.
Wenn man sie hat bei der Vertei­di­gung,
so ist man unüber­wind­lich.
Wen der Himmel retten will,
den schützt er durch die Liebe.

68

Wer gut zu führen weiß,
ist nicht krie­ge­risch.
Wer gut zu kämp­fen weiß,
ist nicht zornig.
Wer gut die Feinde zu besie­gen weiß,
kämpft nicht mit ihnen.
Wer gut die Menschen zu gebrau­chen weiß,
der hält sich unten.
Das ist das Leben, das nicht strei­tet;
das ist die Kraft, die Menschen zu gebrau­chen;
das ist der Pol, der bis zum Himmel reicht.

69

Bei den Solda­ten gibt es ein Wort:
Ich wage nicht, den Herrn zu machen,
sondern mache lieber den Gast.
Ich wage nicht, einen Zoll vorzu­rü­cken,
sondern ziehe mich lieber einen Fuß zurück.
Das heißt gehen ohne Beine,
fech­ten ohne Arme,
werfen, ohne anzu­grei­fen,
halten, ohne die Waffen zu gebrau­chen.

Es gibt kein größe­res Unglück,
als den Feind zu unter­schät­zen.
Wenn ich den Feind unter­schätze,
stehe ich in Gefahr, meine Schätze zu verlie­ren.
Wo zwei Armeen kämp­fend aufein­an­der­sto­ßen,
da siegt der, der es schwe­ren Herzens tut.

70

Meine Worte sind sehr leicht zu verste­hen,
sehr leicht auszu­füh­ren.
Aber niemand auf Erden kann sie verste­hen,
kann sie ausfüh­ren.
Die Worte haben einen Ahn.
Die Taten haben einen Herrn,
Weil man die nicht versteht,
versteht man mich nicht.
Eben daß ich so selten verstan­den werde,
darauf beruht mein Wert.
Darum geht der Beru­fene im härenen Gewand:
aber im Busen birgt er ein Juwel.

71

Die Nicht­wis­sen­heit wissen
ist das Höchste.
Nicht wissen, was Wissen ist,
ist ein Leiden.
Nur wenn man unter diesem Leiden leidet,
wird man frei von Leiden.
Daß der Beru­fene nicht leidet,
kommt daher, daß er an diesem Leiden leidet;
darum leidet er nicht.

72

Wenn die Leute das Schreck­li­che nicht fürch­ten,
dann kommt der große Schre­cken.
Macht nicht eng ihre Wohnung
und nicht verdrieß­lich ihr Leben.
Denn nur dadurch, daß sie nicht in der Enge leben,
wird ihr Leben nicht verdrieß­lich.

Also auch der Beru­fene:
Er erkennt sich selbst, aber er will nicht schei­nen.
Er liebt sich selbst, aber er sucht nicht Ehre für sich.
Er entfernt das andere und nimmt dieses.

73

Wer Mut zeigt in Waghal­sig­kei­ten,
der kommt um.
Wer Mut zeigt, ohne waghal­sig zu sein,
der bleibt am Leben.
Von diesen beiden hat die eine Art Gewinn,
die andre Scha­den.
Wer aber weiß den Grund davon,
daß der Himmel einen haßt?

Also auch der Beru­fene:
Er sieht die Schwie­rig­kei­ten.

Des Himmels Sinn strei­tet nicht
und ist doch gut im Siegen.
Er redet nicht
und findet doch gute Antwort.
Er winkt nicht,
und es kommt doch alles von selbst.
Er ist gelas­sen
und ist doch gut im Planen.
Des Himmels Netz ist ganz weit­ma­schig,
aber es verliert nichts.

74

Wenn die Leute den Tod nicht scheuen,
wie will man sie denn mit dem Tode einschüch­tern?
Wenn ich aber die Leute
bestän­dig in Furcht vor dem Tode halte,
und wenn einer Wunder­li­ches treibt,
soll ich ihn ergrei­fen und töten?
Wer traut sich das?
Es gibt immer eine Todes­macht, die tötet.
Anstelle dieser Todes­macht zu töten, das ist,
wie wenn man anstelle eines Zimmer­manns
die Axt führen wollte.

Wer statt des Zimmer­manns
die Axt führen wollte,
kommt selten davon,
ohne daß er sich die Hand verletzt.

75

Daß das Volk hungert,
kommt davon her,
daß seine Oberen zu viele Steu­ern fres­sen;
darum hungert es.
Daß das Volk schwer zu leiten ist,
kommt davon her,
daß seine Oberen zu viel machen;
darum ist es schwer zu leiten.

Daß das Volk den Tod zu leicht nimmt,
kommt davon her,
daß seine Oberen des Lebens Fülle zu reich­lich suchen;
darum nimmt es den Tod zu leicht.
Wer aber nicht um des Lebens Willen handelt,
der ist besser als der, dem das Leben teuer ist.

76

Der Mensch, wenn er ins Leben tritt,
ist weich und schwach,
und wenn er stirbt,
so ist er hart und stark.
Die Pflan­zen, wenn sie ins Leben treten,
sind weich und zart,
und wenn sie ster­ben,
sind sie dürr und starr.

Darum sind die Harten und Star­ken
Gesel­len des Todes,
die Weichen und Schwa­chen
Gesel­len des Lebens.

Darum:
Sind die Waffen stark, so siegen sie nicht.
Sind die Bäume stark, so werden sie gefällt.
Das Starke und Große ist unten.
Das Weiche und Schwa­che ist oben.

77

Des Himmels Sinn, wie gleicht er dem Bogen­span­ner!
Das Hohe drückt er nieder,
das Tiefe erhöht er.
Was zuviel hat, verrin­gert er,
was nicht genug hat, ergänzt er.
Des Himmels Sinn ist es,
was zuviel hat, zu verrin­gern, was nicht genug hat, zu ergän­zen.
Des Menschen Sinn ist nicht also.
Er verrin­gert, was nicht genug hat,
um es darzu­brin­gen dem, das zuviel hat.
Wer aber ist imstande, das,
was er zuviel hat, der Welt darzu­brin­gen?
Nur der, so den Sinn hat.

Also auch der Beru­fene:
Erwirkt und behält nicht.
Ist das Werk voll­bracht, so verharrt er nicht dabei.
Er wünscht nicht, seine Bedeu­tung vor ändern zu zeigen.

78

Auf der ganzen Welt
gibt es nichts Weiche­res und Schwä­che­res als das Wasser.
Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt,
kommt nichts ihm gleich.
Es kann durch nichts verän­dert werden.
Daß Schwa­ches das Starke besiegt
und Weiches das Harte besiegt,
weiß jeder­mann auf Erden,
aber niemand vermag danach zu handeln.

Also auch hat ein Beru­fe­ner gesagt:
“Wer den Schmutz des Reiches auf sich nimmt,
der ist der Herr bei Erdop­fern.
Wer das Unglück des Reiches auf sich nimmt,
der ist der König der Welt.”
Wahre Worte sind wie umge­kehrt.

79

Versöhnt man großen Groll,
und es bleibt noch Groll übrig,
wie wäre das gut?
Darum hält der Beru­fene sich an seine Pflicht
und verlangt nichts von ande­ren.

Darum: Wer Leben hat,
hält sich an seine Pflicht,
wer kein Leben hat,
hält sich an sein Recht.

80

Ein Land mag klein sein
und seine Bewoh­ner wenig.
Geräte, die der Menschen Kraft verviel­fäl­ti­gen,
lasse man nicht gebrau­chen.
Man lasse das Volk den Tod wich­tig nehmen
und nicht in die Ferne reisen.
Ob auch Schiffe und Wagen vorhan­den wären,
sei niemand, der darin fahre.
Ob auch Panzer und Waffen da wären,
sei niemand, der sie entfalte.
Man lasse das Volk wieder Stri­cke knoten
und sie gebrau­chen statt der Schrift.
Mach süß seine Speise
und schön seine Klei­dung,
fried­lich seine Wohnung
und fröh­lich seine Sitten.
Nach­bar­län­der mögen in Sehweite liegen,
daß man den Ruf der Hähne und Hunde
gegen­sei­tig hören kann:
und doch sollen die Leute im höchs­ten Alter ster­ben,
ohne hin und her gereist zu sein.

81

Wahre Worte sind nicht schön,
schöne Worte sind nicht wahr.
Tüch­tig­keit über­re­det nicht,
Über­re­dung ist nicht tüch­tig.
Der Weise ist nicht gelehrt,
der Gelehrte ist nicht weise.
Der Beru­fene häuft keinen Besitz auf.
je mehr er für andere tut,
desto mehr besitzt er.
je mehr er ande­ren gibt,
desto mehr hat er.
Des Himmels Sinn ist fördern, ohne zu scha­den.
Des Beru­fe­nen Sinn ist wirken, ohne zu strei­ten.

Quelle:  Spie­gel-Projekt Guten­berg (https://gutenberg.spiegel.de/buch/tao-te-king-1326/1)

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